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China: Der Intim-Report

Der west-östliche Liebhaber

Neulich in 338 Metern Höhe, eine Penthouse-Wohnung im exklusivsten Wolkenkratzer von Shenzhen an der chinesischen Festlandküste. Das Nobel-Apartment kostet 8000 Euro Miete im Monat. Genauso viel wie der Flat-Screen-Fernseher an der Wohnzimmerwand, den ich hier als Werbemodel mit einem breiten Grinsen präsentieren soll. „Diffelent smile please!” Die zwölf Chinesen, die um mich herumwuseln, sind noch nicht zufrieden mit meinem Lächeln. Ansonsten kann ich mich über den Job nicht beschweren. Im Gegenteil! 
Ich modele bereits, seit mich vor zehn Jahren eine Agentin auf dem Münchner Marienplatz ansprach. Wenig später lächelte ich im Kurpark der Betty Ford Klinik in Bad Brückenau. Der Bayerische Tourismusverband zahlte mir 800 Euro und brauchte sechs Monate, bis die Plakate auf dem Markt waren. In Shenzhen bekomme ich 6000 Euro, und zwei Wochen später läuft mein Spot bereits im Kino, ich bin landesweit großflächig plakatiert, mein Konterfei fährt auf Bussen durch die Volksrepublik, und das Erste, was man am Flughafen bei der Einreise zu sehen bekommt, ist meine Visage. Ein Schönheitsideal im Land des Lächelns, wo europäische Gesichter die Werbetafeln dominieren und auch weniger modeltaugliche Europäer viele Privilegien genießen. Zum Beispiel in den Warteschlangen der Bahnhöfe, Flughäfen oder Restaurants - und nicht zuletzt bei der Damenwelt, die wiederum meine Schönheitsideale stark geprägt hat. Und sie sind nicht nur schön anzuschauen, sondern auch sehr zugänglich. An manchen Tagen verliebe ich mich in China bis zu fünfmal neu. Das kann sehr anstrengend sein, da mich das emotional oft sehr aufwühlt. Schließlich kann ich meine Liebe kaum offenbaren, ich beherrsche die Sprache nicht. Und die Übersetzungssoftware der Smartphones hilft nur bedingt. 
„Kannst du mir das Essen bitte für zu Hause einpacken“, frage ich an einem meiner ersten Tage in China eine Kellnerin des benachbarten Restaurants via iPhone-App. „Ich kann nicht mit dir nach Hause gehen, ich muss noch weiterarbeiten“, lässt sie mich wissen. Und lacht, während sie die Antwort einspricht. Um mir zwei Tage später dann tatsächlich Essen nach Hause zu bringen. Wie soll man solch reizenden Offerten widerstehen?

Beim Flirten wird alles auf den Tisch gepackt

Viele Deutsche denken bei China an Überwachungsstaat, Konformität, Megacities und Labore, aus denen Coronaviren entweichen, während sich eine hungrige Massengesellschaft – knapp ein Fünftel der gesamten Weltbevölkerung – die westliche Industrie unter den Nagel zu reißen versucht. Abschreckende Stereotype. Ich habe China ganz anders kennengelernt. Offen, freundlich, liebevoll, interessiert – so wie die Kellnerin zu Beginn meiner Zeit im Reich der Mitte.

Kein Wunder, dass das bald auf Gegenseitigkeit beruhte. Binnen kürzester Zeit hatte ich einige Dates, und sie waren alle intim. Sehr intim. Nicht alle im sexuellen Sinne, aber auf emotionaler Ebene immer. Es gab kein oberflächliches Geplänkel. Nein, in China wird beim Flirten gleich alles auf den Tisch gepackt. Zu meinem Glück sprechen einige ganz passabel Englisch.

Belinda zum Beispiel. Die 37-Jährige und ich verbringen gerade mal einen Nachmittag miteinander, als sie mir offenbart: „Ich habe mit dir heute mehr Intimes ausgetauscht als mit meinem Mann in den letzten zehn Jahren.“ Sie hatte mich in der Verbotenen Stadt angesprochen, wo sie als Fremdenführerin jobbt: „Du bist ein schöner Mann. Du hast bestimmt viele Frauen. Komm, ich zeige Dir, wie viele Frauen unser Kaiser hatte.“ Unsere Sightseeing-Tour geriet bald zur Nebensache, da ich ihr Leben viel spannender fand als das eines längst verstorbenen Kaisers. Ihr Mann sei der reinste Trostpreis, klagt sie mir nach wenigen Stunden. Er habe keine Leidenschaft, weder sexuell noch beruflich, bringe trotz seiner guten Ausbildung nicht genug Geld nach Hause. Deshalb müsse sie als Wanderarbeiterin dazuverdienen. So habe sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Aber was solle sie machen? „Ich erfülle meine Pflicht als Mutter, und sobald die Kinder aus dem Haus sind, lasse ich mich scheiden. Dann fange ich endlich mein eigenes Leben an.“ Ihre Augen sagen, dass ein Typ wie ich in diesem Leben durchaus eine Rolle spielen sollte.

„Ich brauche eine gute Note, um entspannt für dich zu sein.“

Die 26-Jährige Baozi verdankt ihren Namen jenen gedämpften Hefeteigtaschen, die – süß oder herzhaft gefüllt – das populärste chinesische Frühstück darstellen. Baozi hat gesunde rote Pausbäckchen, eine wohlproportionierte Figur, und die große kreisförmige Nerd-Brille auf ihrer Nase lässt ihr mädchenhaftes Gesicht tatsächlich kugelrund erscheinen. Im Supermarkt meiner Pekinger Nachbarschaft bekommt sie mit, wie ich die Verkäuferin vergeblich nach einem Salzstreuer frage, und eilt mir als Übersetzerin zur Seite:

„Sowas bekommt man hier nicht. Derlei Artikel bestellt man am besten Online bei Tabao.“
„Leider reicht mein Chinesisch für Online-Shopping nicht aus.“
„Ah, verstehe. Bist du ganz allein?“
„Ja.“
„Keine Frau, ja?“
„Nein.“
„Schön. Dann bestelle  ich das gerne für dich und melde mich über WeChat, sobald das Paket angekommen ist. Dann können wir uns treffen.“

Baozi studiert Biologie, wohnt im benachbarten Studentenwohnheim und steht kurz vor der Doktorarbeit. Zuvor hat sie bereits ein Mathematik-Studium abgeschlossen. „Ich studiere sieben Tage die Woche“, lässt sie mich wissen, und sie leite eine Pflanzenstudie, für die sie oft sogar im Labor übernachte. „Es tut mir leid, dass ich gerade keine Zeit für dich habe“, schreibt sie mir spätabends per WeChat und schickt mir Fotos aus dem Labor. Sie habe wegen des Leistungsdrucks nie Zeit für Männer gehabt, sei gänzlich unerfahren – und würde das gerne ändern. „Vielleicht bist du ja der Richtige dafür. Wenn ich dir gefalle, dann kannst du mich gerne wiedersehen. Allerdings erst in sechs Wochen, wenn meine Prüfungen vorbei sind. Ich brauche eine gute Note, damit ich entspannt für dich bin.“

Chinesisch lieben zu lernen ist nicht einfach

Pflichterfüllung kommt vor Vergnügen. Eine Erfahrung, die ich in China immer wieder mache. Zoey zum Beispiel, 38, hat Modedesign studiert und unterrichtet Kostümbild an der National Dance Academy von Peking. Ein gemeinsamer Freund hat uns ein Blinddate arrangiert, und schon beim ersten Anblick ist klar, dass ich ihm etwas schuldig bin. Besonders staune ich darüber, dass Zoey mich mit einem Mercedes-SUV zu Haue abholt. Wie sich herausstellt, ist sie weit mehr als nur eine Lehrerin für die Tanzelite des Landes, sie ist auch für die Bühnenbilder von diversen TV-Shows verantwortlich. Eine große Nummer in der Branche. Und allein deswegen Single. „Meine Eltern haben ein paar Mal probiert mich zu verkuppeln, aber ich bin zu selbständig und zu erfolgreich für einen chinesischen Ehemann“, sagt sie. Ich bin beeindruckt, und es knistert ein wenig zwischen uns. In Folge treffen wir uns noch zweimal, tauschen Zärtlichkeiten aus. Es scheint sich etwas anzubahnen.
„Ich würde gerne den nächsten Schritt mit dir gehen, aber mein Kopf muss frei sein für die anstehende Prüfung.“
„Was für eine Prüfung?“
„Ich muss für meine Doktorprüfung lernen.“
„Was für einen Doktor?“
„Den Doktortitel in Kostümbild.“
„Wie, es gibt einen Doktortitel für Kostümbild?“
„Ja, klar.“
„Aber für was brauchst du einen Doktortitel? Du bist doch jetzt schon eine große Nummer.“
„Egal, wenn ich den habe, dann stehen mir im ganzen Land alle Türen offen.“ Meine Tür verschließt sich in diesem Moment ein wenig. Ich bin baff angesichts von so viel Ehrgeiz. Chinesisch lieben lernen ist nicht einfach.

Sex ist leichter zu finden als Liebe

Sexuelle Abenteuer hingegen sind recht leicht zu finden. Vor allem in den kleineren Provinzstädten, wo Westler gerne mal als Bett-Trophäe gehandelt werden. Wenn an Feiertagen die Provinz-Touristen in die Großstädte strömen, dann erkennt man sie sofort an ihren unverhohlenen Blicken. Manche wollen Bilder mit mir machen, andere wollen, dass ich ihr Baby auf den Arm nehme, junge Mädchen fragen mich nach meinem WeChat-Kontakt, und manch eine kommt sogar ganz schnell zur Sache: „Du hast so große Hände. Dann müssen andere Teile von Dir bestimmt auch sehr groß sein, oder?“ Die beiden Damen, die mich auf der Shanghaier Flaniermeile The Bund ansprechen, geben mir völlig unverblümt zu verstehen, dass sie für jegliches Amüsement bereit sind.

„Komm uns doch mal in unserer Heimat besuchen. Bei uns gibt es viele einsame Frauen, die von einem Mann wie dir träumen. Da könntest du dir ein paar schöne Tage machen.“ Sie wüssten, dass man mit uns Deutschen viel Spaß haben könne, sagen sie. Eine aus ihrer Stadt habe einen Stuttgarter geheiratet und schwärme von seinen Liebhaberqualitäten. „Seitdem sind wir alle neugierig.“ Ich bin kein Stuttgarter, sondern Münchner, wir sind eher langweilige Liebhaber, erkläre ich scherzhaft, aber sie verstehen meinen Gag nicht und schwärmen weiter von der Ehe ihrer Freundin, aus der so ein megasüßes Mischlings-Baby hervorgegangen sei. „Seitdem wünscht sich unsere beste Freundin auch so ein Baby. Sie will keinen Mann, sondern nur ein Baby. Sie ist vermögend, das könnte sich für dich lohnen. Ist ein easy Job.“ Sorry Ladys, aber für solche Jobs bin ich nicht angereist. Dann doch lieber ein paar unbefriedigte Fotografen ertragen, denen mein Lächeln nicht gefällt während ich versuche ihre Fernseher zu verkaufen. Schließlich steht in meinem Model-Vertrag ausdrücklich: No nude!
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