Nach all den Strapazen der letzten Wochen, dachte ich mir, es sei eine gute Idee, einen Kraftort zu besuchen. Ich bin daher rüber ins Salzburger Land gefahren, um die größte Energie-Tankstelle Europas aufzusuchen, den Untersberg, in der Hoffnung, dass er seinem Ruf gerecht wird und mir Kraft spendet.
Falsch gedacht. Der Untersberg spendete mir keine Kraft. Im Gegenteil, die 2.447 Stufen, die ich da raufstieg, kosteten mich meine letzten Reserven. So sehr hatte mir noch nie ein Berg zugesetzt. Ok, ich hätte am Vorabend vielleicht nicht den selbstgebrannten Schnaps des benachbarten Bauern probieren sollen, aber dennoch sollten 1.972 Meter für einen Bergsportler kein Problem sein. Pipifax, so was macht man normal vorm Frühstück.
Zumindest die zwei Einheimischen, die mir kurz vorm Einstieg entgegenkamen, handhabten das so. „Geile kleine Tour, genau der richtige Energiespender, um in den Tag zu starten. Viel Spaß dir, aber pass auf, der Berg hat seine Tücken.“
Ja, ist schon klar, Jungs, deswegen bin ich ja hier. Wegen den Tücken. Oder auch den Mythen. Der Untersberg, den der Dalai Lama als das „Herzchakra Europas“ bezeichnet, hat nämlich angeblich mehr zu bieten, als nur einen schweißtreibenden Aufstieg.
Unzählige Mythen ranken sich um den Berg. Kaiser Karl der Große und Friedrich Barbarossa sollen darin auf ihre Auferstehung warten, Zwerge und Kobolde sollen in den Höhlen unermessliche Reichtümer hüten, Nazi-Schätze sollen hierhin verschwunden sein, die Wälder des Berges sollen Riesen und Wildfrauen beherbergen, Hitler habe sein Berchtesgadener Domizil bewusst in der Nähe des Kraftortes gewählt und womöglich habe er sogar eines der hiesigen Zeitlöcher genutzt, um für ein paar Jahre zu verschwinden. Sagen berichten nämlich davon, dass in der Gegend besondere Naturkräfte herrschen und die Zeit daher anders tickt.
Ein Jäger hatte sich einst in einer Höhle verirrt und tauchte erst ein Jahr später auf seinem eigenen Trauergottesdienst wieder auf. Ein Bauer hatte sich drei Tage lang im Höhlensystem verirrt und als er wieder nach Hause kam, waren seine Angehörigen um dreißig Jahre gealtert Bei einer Hochzeitsgesellschaft sollen sogar 500 Jahre vergangen sein. Unzählige Geschichten, eine phantastischer als die andere, viel zu viele, als dass man sie komplett ignorieren könnte. Wo es raucht, da gibt’s auch Feuer. Was im Boulevardjournalismus gilt, gilt auch in der Spiri-Welt.
An Rande der Salzburger Festspiele, hatte mir einst Continental-Chefin Elisabeth Schaeffler, eine der reichsten Frauen der Republik, vorgeschwärmt, was für ein wunderbarer Kraftplatz das doch sei. „Herrlich, da kann ich auftanken, wie sonst nirgends auf der Welt.“ Klar, in der Liga weiß man halt, wo sich die energetischen Zentren der Macht befinden, nicht umsonst wohnen Leute wie Porsche, Flick, Piech und Co. allesamt im Salzburger Land.
„Stellen sie sich vor, jetzt habe ich mich doch tatsächlich in meinem Alter nochmal verliebt. Was ja schon außergewöhnlich genug wäre, aber dann stellte sich auch noch heraus, dass wir am gleichen Tag geboren sind. Verrückt, oder?“ Frau Schaeffler offenbarte mir nicht nur ihr Liebesleben, sondern ungefragt auch noch ihr Sternzeichen. „Wir sind beides Löwen, also astrologisch gesehen zwei Siegertypen mit viel Leidenschaft.“ „Ich würde mal sagen, ihre Sternzeichen passen wie angegossen, so erfolgreich wie sie beide sind.“ „Ja, irgendwie schon, aber es gibt ja Wichtigeres im Leben als Geld und Karriere. Dass mich die Liebe nochmal heimsucht empfinde ich als das viel größere Geschenk.“ „Klingt echt schön. Und wer ist jetzt der ältere von Ihnen?“ „Mein Mann ist drei Stunden älter. Das sieht man doch wohl, oder?“ Eine reizende Milliardärin mit Sinn für Esoterik.
Eine Beobachtung, die ich immer wieder mache. Desto elitärer und gebildeter, desto offener für Übersinnliches. Nicht umsonst geben sich im Silicon Valley und an der Wall Street spirituelle Berater und heilbringende Gurus die Klinke die Hand. In Los Angeles sowieso. Da gehört der hauseigene Heiler genauso zum guten Ton wie die schamanische Ayahuasca-Zeremonie.
Schon beim Einstieg in den Untersberg war klar, dass der Berg besonders war. Er ist irgendwie mächtiger und dunkler – kein Wunder, dass man in das Terrain so viel hineininterpretierte. Vor allem das Waldstück ist wie geschaffen für Kobolde, Waldfrauen und Zwerge. Leider ist er nicht geschaffen für therapiebedürftige Wanderer. Keine Pfade oder Wege, auf denen man einen gemütlichen Aufstieg hätte machen können.
Nein, nur Stiegen, Stiegen und noch mal Stiegen. Steil, immer bergauf, ähnlich einem nicht enden wollenden Treppenhaus. Ganz so, als wolle der Berg einem zeigen, dass er kein gemütlicher Zeitgenosse sei, auf dem man einfach mal ein wenig rumspaziert, nein, seine Gunst muss man sich erkämpfen.
Schon auf halber Strecke wäre ich am liebsten umgekehrt, weil ich so erschöpft war. Ich war schließlich nicht zum Verausgaben, sondern zum Auftanken gekommen. Aber ein Abstieg war nicht möglich, da es in der letzten Nacht geregnet hatte und die Stiegen so nass und glitschig waren, dass ich mir beim Runtergehen sicher alle Knochen gebrochen hätte.
Also Augen zu und durch. Nicht die besten Voraussetzungen, um Fabelwesen wahrzunehmen. Zeitlöcher könnten helfen, um einen da hoch zu bringen, aber es taten sich leider keine auf, im Gegenteil, die Zeit spielte gegen mich, sie schien zu kriechen.
Vielleicht ist genau das, die Magie des Berges. Vielleicht ist der Anstieg eine spirituelle Prüfung? Was ist er bereit zu geben, um ein Sehender zu werden? Hat er es verdient, den Kobolden zu begegnen? Hat er genug Kraft, um es mit den Riesen aufzunehmen? Ist er es wert, ihn die Goldschätze finden zu lassen? Oder ist er einfach nur so dämlich ein paar Bergstiegen mit einer mystischen Reise zu verwechseln?
Nach nur einer Wegstunde hatte ich bereits jeglichen Sinn für Übersinnliches verloren. Ich hatte viel zu sehr mit meinen eigenen Dämonen zu kämpfen, als dass ich irgendwelche anderen hätte wahrnehmen können. Zumal im letzten Drittel ein paar felsige Steilstücke ins Spiel kamen, die meine Schwindelfreiheit unter starke Probe stellten.
Jetzt verstand ich, warum die Anwohnerin am Einstieg mich so ausdrücklich davor gewarnt hatte, bei den nassen Wetterbedingungen, bloß nicht den anspruchsvolleren, linken Weg zu wählen. Natürlich hatte ich die alte Dame ignoriert. Hey Omi, ich bin Sportler, bei mir darf’s immer ein wenig mehr sein. Hätte ich mal besser auf sie gehört.
Mir war etwas mulmig zumute, auch weil mir unterwegs nicht ein einziger Wanderer begegnet war, hier würde ich lange auf Hilfe warten müssen, wenn ich auf einem der nassen Felsvorsprünge ausrutschen würde. Kraftort? So’n Scheiß! Angstort!
Langsam wurde mir klar, warum der Dalai Lama den Berg das Herzchakra Europas nannte: Weil hier die Pumpe schneller schlägt, als an jedem anderen Ort! Aber der Dalai Lama hatte sich bestimmt mit der Gondel von der anderen Seite hochkutschierten lassen – der war hier sicher nicht selber raufgeklettert.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, also nach dreißig oder vielleicht auch nur nach drei Stunden, erreichte ich tatsächlich pitschnass und fix und fertig das Gipfelkreuz. Ich hatte den Zauberberg bezwungen, ohne Zauber wahrzunehmen, habe dafür ein paar meiner Dämonen besiegt und bin jetzt endgültig am Ende meiner Kräfte. So viel zum Thema Kraftort.
Hier sitze ich jetzt. Kraft zum Abstieg habe ich keine mehr. Ich warte daher darauf, dass Herr Kurz seine Gondeln wieder schweben lässt. Das kann dauern. Egal. Vielleicht habe ich ja Glück und es tut sich ein Zeitloch auf und katapultiert mich ein paar Jahre weiter, in eine Zeit, in der Corona so normal wie eine Grippe ist. „Lust zum Tennisspielen?“ „Sorry, ich kann heute nicht, ich habe Corona.“