Und plötzlich bin ich zum ersten Mal in China. Dass mein bisheriger Wohnort Shanghai nicht das echte China repräsentiert, ähnlich wie Paris nicht Frankreich und München nicht Deutschland ist, wusste ich zwar, aber wie wenig Shanghai tatsächlich mit dem Rest der Volksrepublik zu tun hat, habe ich erst gemerkt, als ich nach Guangzhou, an die Festlandküste zu Hongkong, umgezogen bin.
Alles anders hier. Es geht schon damit los, dass ich keinen Helm beim Mopedfahren tragen muss. Das erhöht meine Überlebenschancen ungemein, da ich so einfacher als Ausländer erkennbar bin und man etwas mehr Rücksicht auf mich nimmt. Ansonsten gilt hier im Straßenverkehr das Recht des Stärkeren. Die Vorfahrt gehört dem, der sie sich nimmt. Ja, der bloße Augenkontakt mit dem Gegenüber an der Kreuzung wird als Schwäche gedeutet und gnadenlos ausgenutzt. Offiziell gelten zwar die gleichen Regeln und Gesetze wie in Shanghai, nur ignoriert man sie halt konsequenter. Für ein Land, das im Westen gerne als totalitärer Überwachungsstaat dargestellt wird, in dem sich angeblich keiner traut, aus der Reihe zu tanzen, herrscht hier die reinste Anarchie.
Mit der Fluppe in der Muckibude
In meinem Fitnessstudio darf geraucht werden. In meinem Saunaclub auch. Ich rauche zwar nicht, aber ich finde es herrlich schräg, dass dort tatsächlich Typen mit der Fluppe im Mund Gewichte stemmen. Dafür reist man doch schließlich in ferne Länder, um den größtmöglichen Kontrast zum gewohnten Leben zu erfahren. Am Vormittag, wenn die Nikotinschwaden verflogen sind, spielen im gleichen Studios Mamis und Omis mit ihren Kindern. Mehr Kontrast geht nicht.
Und als der Yogalehrer irgendwann ausfiel, hat man mich kurzerhand zum Yogalehrer befördert. Wortlos wohlgemerkt. Mit Zeichensprache hatte man mir zu verstehen gegeben, dass ich das, was ich hier sonst immer für mich alleine auf meiner Matte tue, doch bitte auf der Bühne des Yogaraums tun solle. Englischkenntnisse? Null! Meine Yogalehrer-Expertise? Null! Ich stellte mich der Herausforderung und unterrichtete fortan eine Gruppe von Hausfrauen, die mir blindlings vertrauten und mir wie die Minions folgten.
Unsere Lehrerin hatte uns das ganz anders gezeigt, aber wenn der Neue meint, dass die Asanas so aussehen müssen, dann wird das schon stimmen. Der Lehrer kommt schließlich aus Deutschland, die bauen gute Autos, die machen bestimmt auch gutes Yoga.
„Was machen wir denn jetzt, Lehrer?“
Wie sich einige Zeit später herausstellte, gab es einen triftigen Grund, warum mein Vorgänger nicht mehr zur Arbeit erschienen war. Man hatte ihm sein Gehalt nicht überwiesen. Das Studio war pleite. Ich war quasi ein Notnagel gewesen. Einer, mit dem man nicht nur Geld sparte, sondern auch noch einnahm. Die einzige Langnase im Viertel, die noch dazu Yoga unterrichtet, das ist ein Seller, egal, wie unelegant dessen Asanas aussehen. Zumal meine Schülerinnen noch nie einen männlichen Yogi erlebt hatten, wie sie mir erklärten.
Als schließlich eines Morgens die Studiotüren verschlossen waren, weil der Besitzer samt Mitgliedsbeiträgen das Weite gesucht hatte, ohne Miete und Strom zu bezahlen, war die Aufregung in der Nachbarschaft groß. „Was machen wir denn jetzt, Lehrer?“ Man fragte tatsächlich den Ausländer, wie man mit Betrügern im eigenen Land umgeht. Da ich durch mein Boxtraining mit einem hiesigen Polizisten befreundet bin, konnte ich die Angelegenheit zumindest zur Anzeige bringen. Ferner überzeugte ich meinen Vermieter, dem der Studiobesitzer ebenfalls Geld schuldete, ein paar Gerätschaften zu pfänden und in den Hobbyraum unseres Gebäudes zu transferieren. Auf die Idee war niemand gekommen. So viel zum Thema Eigeninitiative in China. Kein Wunder, dass sich in diesem Land so viele Westler als Berater eine goldene Nase verdienen. Oder auch verdienten, denn die meisten sind weg.
Rund 70 Prozent der Expats haben China verlassen. Zum einen wegen des Schocks über den Brutalo-Lockdown, zum anderen wegen der Wirtschaftskrise. Wie schlimm es um meine Region Guangdong (ehemals Kanton), die bevölkerungsreichste Region des Landes, steht, wurde mir beim Weihnachtsempfang des deutschen Wirtschaftsverbands bewusst, als man tatsächlich den Besuch des bayerischen Wirtschaftsministers und Bierzelt-Demagogen Hubert Aiwanger als Highlight des Jahres 2024 bezeichnete. Ansonsten sind mir hier keine Nazi-Sympathisanten untergekommen. In Shanghai hingegen muss ich mir öfters anhören, was dieser Hitler doch für eine imposante und mächtige Figur gewesen sei. Ja, auf Macht, Power und Kohle stehen sie. Politik ist ihnen egal, solange der Rubel fließt. Und da der gerade nicht fließt, wird gerne geschimpft und gejammert.
In Guangzhou wird nicht gejammert, der Menschenschlag hier ist deutlich entspannter und schicksalsergebener als in Shanghai. Beispiel Fake Market: Ein Besuch in einem dieser Märkte, in denen man Kopien von Dyson, Rolex, Gucci und Co. kaufen kann, kann in Shanghai oder Peking aufgrund des aggressiven Habitus der Händler durchaus traumatisierend sein, ja, in manchen Reiseforen wird es sogar als „Hölle“ bezeichnet. In Guangzhou spaziert man da ganz gemütlich durch, keiner nervt einen, und wenn man was kaufen möchte, nennen sie einen fairen Preis, der keiner Feilscherei bedarf. Und wenn man nichts kauft, wird man trotzdem oft noch auf ein Schwätzchen eingeladen.
Die Fabrik der Welt
Guangzhou wird als „Fabrik der Welt“ bezeichnet. Es ist das Eldorado für Großhändler aus aller Welt. Ob Lampen, Telefone, Handtaschen, Autoblinker, Kotflügel, Schmuck oder Textilien, hier gibt’s für alle nur denkbaren Produktgruppen riesige Einkaufszentren, deren Preise weltweit nicht zu unterbieten sind. Ich brauchte ein paar neue Kopfhörer und fand ein Gebäude mit zwölf Etagen, auf denen ausschließlich Bluetooth-Geräte verkauft werden. Für einen technikaffinen Fuzzi wie mich, das reinste Paradies, zumal man nicht selten von engelsgleichen Wesen bedient wird. Ja, ich habe einigen unnötigen Schnickschnack gekauft, nur um den WeChat-Kontakt der Händlerin zu bekommen.
Herzlich, warm und ehrlich
Die Frauen im Guangdong mögen oberflächlich betrachtet nicht ganz so hübsch sein wie in Shanghai, aber sie strahlen mehr Herzenswärme aus. Auch sehe ich deutlich mehr Liebespaare, die öffentlich Zärtlichkeiten austauschen und Händchen haltend durch die Straßen schlendern. Ich erlebe glücklichere und vor allem sozialere Menschen. Ja, in der U-Bahn steht man tatsächlich auf, wenn eine ältere oder gebrechliche Person einsteigt. Das hatte ich in Shanghai oder Peking noch nie erlebt.
Chinesen sind gemein zu Chinesen, hatte meine Shanghaier Freundin Nikki mir einst erklärt, und ich vermochte ihr nicht zu widersprechen, auch wenn man zu mir immer übertrieben freundlich war. Im Süden des Landes, wo das Thermometer nie unter 21 Grad fällt, ist man nicht gemein zueinander. Und obgleich ich hier vergleichsweise Alien-Status genieße, begegnet man mir weniger devot als in Shanghai. Kurzum, das Leben hier ist ehrlicher.
Das Abenteuer meines Lebens
Das Beste an Guangzhou ist die Nähe zur Natur. Ich bin mit meinem Moped wahlweise in 20 Minuten im Zentrum der 18-Millionen-Stadt oder im Dschungel der Baiyun Mountains. Der Kontrast könnte kaum größer sein. Auf der einen Seite Horden von Händlern, die Krimskrams in die ganze Welt verschiffen, auf der anderen Seite Menschen, die im Wald singen, tanzen und mit Tieren reden. Ich kann mir keinen schöneren Ort vorstellen, zumal es hier für kommerzielle Models die meisten Jobs des Landes gibt.
Die Region ist viel mehr Asien und hat einem Abenteurer wie mir daher viel mehr zu bieten. Leider gilt das auch für die Ernährung. Eine Redewendung besagt, dass Kantonesen alles essen, was vier Beine hat, außer einem Tisch, alles, was fliegt, außer einem Flugzeug und alles, was schwimmt, außer einem U-Boot. Dem kann ich mich nur sehr bedingt stellen. Die Zeiten, in denen ich aus Höflichkeit alles probierte, was man mir anbot, sind lange vorbei. Der Krokodilfleischhändler, der abends riesige Panzerechsen auf der Straße vor meiner Haustür zersägt, und ich, werden wohl niemals Freunde werden. Assimilation hat schließlich Grenzen.
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