Zum Inhalt springen

In Memoriam

Angeblich sollen die Gottgefälligen das Paradies ja erst nach dem Tod erreichen. Günther hatte sein Paradies jedoch schon zu Lebzeiten gefunden. In den Tiroler Bergen. Eine Hütte mitten im allerschönsten Nirgendwo, umgeben von saftigen Wiesen, dunklen Wäldern und imposanten Berggipfeln. Natur pur. Keine Menschen. Kein Lärm. Nur ein paar Kuhglocken und zwitschernde Vögel erinnerten ihn daran, dass er nicht alleine auf der Welt war. Paradiesisch halt. Vielleicht war Gott der Meinung gewesen, dass Günther dem Tod oft genug von der Schippe gesprungen war, um ihm seinen Garten Eden schon vorab zu servieren. Vielleicht wollte Gott dem Todgeweihten auch nur seine letzten Meter versüßen.

Der Heimwerkerkönig

Günther und mich verband seit Schulzeiten in Paris, eine alte Rock’n Roll-Freundschaft, deren Dynamik man getrost als ungesund bezeichnen konnte. Wir waren einst wie Pech und Schwefel. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb hatten sich unsere Wege irgendwann getrennt, um uns erst 20 Jahre später auf seiner Tiroler Berghütte wieder neu zu begegnen. In sein neues Zuhause war ich sofort verliebt, selten zuvor hatte ich mich irgendwo auf Anhieb so entschleunigt gefühlt.

Günther hatte mit meiner Vorstellung von Entschleunigung jedoch nicht viel am Hut. Der Heimwerkerkönig hatte den ehemaligen Kuhstall in eine kleine Luxushütte verwandelt und schien nur glücklich, wenn er etwas zu werkeln hatte. Neben einer selbstgebauten Sauna, zwei Sonnenterassen, einer Solaranlage, einem Badezimmer mit Badewanne und einem perfekt ausgebauten Wohnbereich, gehörte dazu auch ein akkurat gepflegter Garten, in dem er den ganzen Tag am Schuften war. Und wenn alle Arbeit getan war und jeder Grashalm die gleiche Länge zu haben schien, suchte sich Günther neue Arbeit. Zaun reparieren, Zaun streichen, Holz hacken, Bäume fällen, Pflanzen umsetzen, Scheune umräumen, irgendwas fand er immer.

Die einzigen Pausen, die er sich gönnte, verbrachte er im liebevollen Zwiegespräch mit seinen Hanfpflanzen. Günther hatte wohl das, was man einen grünen Daumen nennt, denn der THC-Gehalt der Pflanzen schien immerhin hoch genug, um den Heimwerkerkönig gelegentlich mal zum kurzen Stillstand zu bewegen.

Dem Sonnyboy war das Lachen vergangen

Günther war sein Leben lang ein Sunnyboy gewesen – er war der Typ Mensch, den jeder gerne mochte. Gutaussehend, kommunikativ und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Die Frauen liebten ihn, die Männer beneideten ihn. Das war alles wie weggewischt, als wir in Tirol wieder zueinander fanden. Aus dem einstigen Sunnyboy war im letzten Lebensabschnitt ein Eremit geworden, der nicht viele Sympathien für andere Menschen hegte. Für Bergtouristen, die seine Ruhe störten erst recht nicht. Günther schien abgeschlossen zu haben mit dem Rest der Welt. Und mit sich selbst auch.

Wie sich herausstellte, hatte er ein paar Jahre zuvor einen Autounfall verursacht, bei dem ein 17-jähriger Tiroler ums Leben gekommen war. Die Leiche schleppte er seitdem auf seinen Schultern herum, ohne das jemals aufgearbeitet zu haben. Kein Wunder, dass Günther sich zurückgezogen hatte und sich jeden Tag ablenkte so gut er konnte. War wohl seine Art mit dem Schmerz umzugehen. 

Worin Günther und ich uns einig waren: Winter auf der Hütte ist nichts für Sonnyboys

Traumhafter Abschied

Der Kontakt zwischen Günther und mir war wieder abgerissen, als ich ein halbes Jahr später, während eines Mallorca-Aufenthalts, von starken Migräneanfällen heimgesucht wurde. Ich quälte mich zwei Tage lang bettlägerig in einer abgedunkelten Finca, bis mir plötzlich Günther im Traum erschien. Er lachte, so wie der alte Günther es zu tun pflegte und nahm mich an der Hand, mit auf eine Bergtour. Es war schön den alten Freund so glücklich zu sehen. Wir zogen durch die Bergwelt, vorbei an seiner Hütte, dem Gipfel entgegen, er war ganz eins mit der Natur, sogar die Tierwelt spürte das, wir trafen auf Rehe und Gämse, die ihn begrüßten wir einen alten Freund. Da war nichts Feindseliges mehr an ihm. Da war nur Liebe. Als wir schließlich am Gipfel ankommen, lässt er meine Hand plötzlich los und springt freudestrahlend eine Steilwand hinunter. Ich wache vor Schreck sofort auf. Ich fühle mich erschöpft, aber meine Schmerzen sind verschwunden. Als ich wenig später nach meinem iPhone greife, lese ich eine Nachricht von einem Freund: Günther ist soeben verstorben!

Ruhe in Frieden, alter Freund!

Wie sich in Folge herausstellte, war seinem Ableben ein zweitägiger schmerzvoller Todeskampf vorausgegangen. Günther hatte seit Jahren unter Leberkrebs gelitten, war nie zum Arzt gegangen, hatte seine lebensbedrohende Krankheit nie geteilt, hatte alles nur mit sich selbst ausgemacht und war schließlich ein paar Tage vor seinem Ende zusammengebrochen und mit Rettungssanitäter ins Krankenhaus eingeliefert worden. Dort hatte man ihm noch zehn Tage gegeben.

Einziger Trost für die Hinterbliebenen: Leberkranke seien typischerweise schlecht gelaunt, wie der Arzt erklärte. Man solle es ihm daher doch bitte nachsehen, wenn er am Schluss ein wenig griesgrämig gewesen sei. Ich habe ihm seine Griesgrämigkeit lange nachgesehen. Ob er mir nachsieht, wie verwildert sein Garten mittlerweile aussieht und dass ich den Kühen freien Zutritt gewähre? Manchmal glaube ich ihn schimpfen zu hören – liebevoll, nicht griesgrämig. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.