Stephan und mich eint die Lust am Abenteuer in östlichen Ländern. Mit dem Unterschied, dass ich gern mit dem Flieger gen Osten reise und Stephan lieber zu Fuß geht. Zum Beispiel von München nach Tibet. 13.000 Kilometer durch 13 Länder. Vier Jahre hat er dafür gebraucht. Kosten? Zero! Er nahm einfach kein Geld mit.
Dabei entsprach das ganz und gar nicht dem Naturell des gelernten Elektrikers und Versicherungskaufmanns, der bis dahin ein sehr bürgerliches 9-2-5-Leben führte. Ein kleiner Wanderurlaub auf dem Jakobsweg hatte den Impuls gesetzt. „Dieses Gefühl loszugehen und nicht zu wissen, was auf mich zukommt, hat mich total angefixt. Plötzlich erschien mir mein bisheriges Leben zu langweilig. Ich wollte weniger Kontrolle und mehr Abenteuer.“
Keine Kohle? Egal!
Drei Jahre später ist es so weit. Stephan Meurisch kündigt seinen Job, löst seine Wohnung auf und macht sich auf den Weg. Das Datum, der 11. März 2012, einen Tag nach seinem 31. Geburtstag, war lange gesetzt. Das sei ganz wichtig gewesen, sagt er, sonst wären ihm tausend Gründe eingefallen, um die Reise zu verschieben. So konnte ihn nicht mal der Umstand bremsen, dass er pleite war. „Ich beschloss einfach den Trip ohne Kohle zu machen. Rückblickend die beste aller Entscheidungen.“
Der erste Tag war der schlimmste und schönste zugleich.
Der Sonntagmorgen war dennoch denkbar ungünstig gewählt. Stephan war verkatert von seiner Geburtstagsfeier, es regnete und es hatte knapp über null Grad. Ein perfekter Tag, um im Bett zu bleiben. Als er am Abend sein erstes Etappenziel, das 30 km entfernte Forstinning, erreicht, ist er fix und fertig. „Ich war nass, durchgefroren und hatte furchtbaren Muskelkater. Hätte ich in jener Nacht im Zelt schlafen müssen, hätte ich den Trip wahrscheinlich abgebrochen. Stattdessen fand ich einen Wirt, der mich in seinem Gasthof aufnahm, mich zum Essen einlud und mir am nächsten Tag sogar noch ein Lunchpaket mit auf den Weg gab. Ein Schlüsselerlebnis. Rückblickend der wertvollste Moment meiner Reise.“
Wenn man ein Zelt mitschleppt, das man nicht braucht.
Sein Zelt sollte Stephan erst über 100 Tage später in Rumänien das erste Mal aufbauen. In vier Jahren hat er es nur zwölfmal gebraucht. Seinen Campingkocher schickte er noch vor der Überquerung der Karpaten nach München zurück. Entgegen allen Prophezeiungen wurde er überall mit offenen Armen empfangen.
„Die Welt ist nicht so schlecht wie man glauben mag.“
„Interessante Beobachtung: Jedes Land warnte mich vor dem Nachbarland. Schon in Deutschland meinte man, ich würde Rumänien nicht überleben. Die Rumänen warnten mich vor der krassen Bulgaren. Die Bulgaren vor den verbrecherischen Türken. Die Türken vor den Georgiern. Und so weiter. Das zog sich so durch bis zum Ende. Aber mir ist trotzdem nie irgendwo etwas Schlimmes widerfahren. Die Welt ist nicht so schlecht, wie man es glauben mag, wenn man Zeitung liest oder Fernsehen schaut.“
Der deutsche Touri ist besser als Kino.
Desto weiter östlich er kam, desto freundlicher wurden die Menschen. Essen, Trinken und Übernachtung konnte er sich irgendwann aussuchen. Er solle doch etwas länger bleiben. Zur Hochzeit des Sohnes. Zum Geburtstag des Opas. Ja, ein türkischer Iman bot ihm gar die Hand seiner Tochter an. Der fröhliche Deutsche, der zu Fuß nach Tibet pilgerte, mit einem Rucksack voller Abenteuergeschichten, das war wie Kino, davon konnte man nicht genug bekommen.
„Alles ausblenden und einfach loslassen…“
Irgendwann kam Stephan schließlich von seinem ursprünglichen Plan ab, den Trip in zwei Jahren zu bewältigen. Ganz der Versicherungsvertreter, hatte er sich nämlich vorgenommen jeden Tag 16 Kilometer zu gehen, um die Lücke im Lebenslauf überschaubar zu halten. „Hätte ich das tatsächlich durchgezogen, wären mir die wertvollsten Begegnungen verwehrt geblieben. Das größte an dieser Reise war, dass ich es geschafft habe, mich von meinem Plan zu verabschieden. Von der Angst vor der Zukunft. Ich habe einfach losgelassen. Das war ein Geschenk an mich.“
Den bekloppten Deutschen lassen wir nicht auf unsere Brücke.
Fortan hatte Stephan genug Zeit. Auch um Hürden zu meistern. Als er am 235. Tag seiner Reise in Istanbul eintrifft, war erstmal Endstation. Denn die beiden Brücken, die über den Bosporus nach Asien führen, sind für Fußgänger gesperrt. Zu viele Selbstmörder hatten sich hier in der Vergangenheit in den Tod gestürzt. Und wer weiß, was der bekloppte Deutsche mit dem Look eines Wanderpredigers anstellen würde, wenn man ihn auf die Brücke lassen würde. Keine Ausnahmen. Der Bürgermeister bleibt hart.
„Wie der König der Welt“
Drei Wochen gammelte Stephan in Istanbul herum – und Stephan hasst Großstädte – bis ihn schließlich ein Journalist auf die Baustelle des Eisenbahntunnels aufmerksam machte, der unter der Meerenge durchführte. Die Ingenieure hatten gerade den Durchbruch geschafft und erlaubten dem Wanderer trockenen Fußes nach Asien überzusetzen. „Ich fühlte mich wie der König der Welt und dachte, jetzt kann mich nichts mehr aufhalten.“
Der Iran zwingt zu Kompromissen.
Eineinhalb Jahr bleibt Stephan in der Türkei, passiert anschließend Georgien, bis ihm im Iran schließlich die Flügel gestutzt werden. Sein Visum gilt nur für 90 Tage. Nicht genug Zeit für die 4.000 Kilometer. Stephan muss notgedrungen schummeln und Teile der Strecke mit Bus, Zug oder Autostopp zurücklegen. Spannend war es trotzdem, wie er meint.
„Indien? OMG!“
Pakistan erzwingt ebenfalls Kompromisse, da man ohne bewaffneten Begleiter nicht durchreisen darf. In Indien hätte gerne einen solchen Bodyguard an der Seite gehabt, da ihm ständig ein Dutzend Menschen an der Backe klebten, die ihm bis aufs Klo folgten. „Die mental anstrengendste Etappe meiner Reise.“
Happy End geht anders.
Über Nepal erreicht der Weltenbummler schließlich nach knapp vier Jahren Tibet. Endlich. Freude? Stolz? Erleichterung? Fehlanzeige! „Die Ankunft war furchtbar!“Längst war der Weg zum Ziel geworden. „Ich wollte nicht ankommen. Es war wie ein spannendes Buch, bei dem du jeden Tag ein neues Kapitel verschlingst. Ich wollte nicht, dass das Buch endet.“
Schlimm sei auch die Erfahrung gewesen, dass am Ziel niemand auf ihn wartete. Kein roter Teppich, keine Fanfaren, stattdessen restriktive behördliche Auflagen, die es ihm untersagten, sich frei zu bewegen. „Ich fühlte mich einsam und fiel in eine regelrechte Depression.“
Wenn plötzlich nichts mehr wie vorher ist.
Ab nach Hause. Per Anhalter. 13.000 Kilometer in drei Wochen. Das habe sich angefühlt, als wenn man auf Fast Rewind drückt. Der letzte Fahrer, der ihn mitnimmt, setzt ihn ausgerechnet auf Münchens Nobelmeile, der Maximilianstraße, ab. „Im Schaufenster sah ich eine Handtasche, von deren Preis sich eine nepalesische Familie ein Leben lang hätte ernähren können. Sehr ernüchternd.“
Vieles ernüchtert Stephan infolge. Seine Freunde, seine Arbeit, sein Lifestyle – er kann nicht mehr ans alte Leben anknüpfen und krempelt es daher um. Mittlerweile hat er sich als „Langstreckengeher, Abenteurer und Coach“ selbständig gemacht und natürlich auch ein Buch geschrieben. http://stephanmeurisch.de
Auf einem Trip hängen geblieben…
„Ich bin ein anderer Mensch als früher. Vor der Tibet-Reise hätte ich Dir niemals ein Interview geben können, ich war viel zu schüchtern.“ Kaum vorstellbar, wenn man Stephan in meinem Podcast reden hört. Er teilt sich gerne mit. Und Stephan ist immer fröhlich. Ja, sein übertrieben breites Grinsen wirkt ein wenig, als ob er auf einem LSD-Trip hängen geblieben wäre. Dabei war es wohl eher der Tibet-Trip, auf dem er hängen geblieben ist.