Bo hat sich in die Hosen gemacht. Jetzt sitzt er da, im eigenen Saft und stinkt und schimpft. Er würde gegen seinen Willen festgehalten, man hätte ihn gekidnappt, man würde ihn foltern, ein großes Unrecht sei das, zumal er doch gar nichts verbrochen habe und ein ganz normaler Junge sei. Bo schluchzt, jammert und weint, aber Werner Singer kann er damit nicht beeindrucken.
Der Münchner Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin hat in seiner Karriere schon weitaus schlimmere Patienten erlebt. Der Suchtexperte, einst Leiter von drei süddeutschen Rehakliniken des Deutschen Ordens, ist als Berater in der Pekinger Klinik für Internetabhängigkeit seines chinesischen Kollegen Dr. Tao Ran tätig.
Wenn man mit 17 Jahren noch Windeln trägt
Bo ist einer der 80 Patienten, die in Tao Rans Klinik auf Digital-Entzug Höllenqualen erleiden. Bo ist 17 Jahre jung und hat bis vor einer Woche noch Windeln getragen, damit er seine Internet-Spielereien nicht durch zeitraubende Toilettengänge unterbrechen musste. Sein Schließmuskel muss daher neu trainiert werden. Er hatte drei Jahre, von der Außenwelt isoliert, in seinem Zimmer verbracht, die Schule geschwänzt und die Tür nur geöffnet, damit die Mutter ihm das Essen hineinreichen konnte.
Die verzweifelte Frau hatte schließlich ein paar Ex-Militärs engagiert, die ihren Sohn gewaltsam in die Klink von Tao Ran brachten. Kidnapping halt. Oder einfach nur elterlich verordnete Zwangstherapie, wie Singer meint. Das sei auch in Deutschland üblich. Zwar nicht mit solch rabiaten Methoden, aber ein 17-jähriger Junkie, egal ob er Heroin spritze oder Pokémon-süchtig sei, würde sich niemals freiwillig einer stationären Entwöhnungsbehandlung unterziehen. „Da steckt immer Zwang dahinter. Entweder vom Staatsanwalt oder den Eltern.“ Insofern nichts Neues für Singer.
„Die Ein-Kind-Politik hat lauter neue kleine Kaiser hervorgebracht.“
Neu jedoch, dass die besorgte Mutter gelegentlich ungebeten in seine Sitzungen hereinplatzt. Die besorgten Eltern der Patienten (zwischen 14 und 25 Jahren) haben sich nämlich allesamt im benachbarten Angehörigenhaus der Klinik eingemietet und ignorieren gerne therapeutische Grundregeln, wenn es um das Wohl ihres geliebten Einzelkindes geht.
Eine Folge der Ein-Kind-Politik – Kinder werden gerne maßlos verwöhnt. Singer regt das auf. „Vor hundert Jahren habt ihr euren Kaiser entmachtet, damit ihr heute wieder lauter neue kleine Kaiser aufzieht“, knallt er den Eltern gerne in solchen Momenten um die Ohren. Über den Spruch würden die Eltern zwar immer lachen, aber kapieren würden sie ihn nicht.
„Freiwillig passiert hier gar nichts.“
Sechs bis neun Monate dauert ein Aufenthalt in der Klinik von Tao Ran, der parallel auch noch Heroin-Abhängige in einer Militärambulanz behandelt. Mit Kosten von 80 Euro am Tag muss da oft die ganze Verwandtschaft zusammenlegen, damit der Sprössling wieder fit wird. Sechs Uhr aufstehen, Singen, Frühsport, Gruppentherapie, wieder Sport – der Tag ist minutiös durchstrukturiert. In den Grundzügen nicht viel anders als in Singers ehemaligen deutschen Suchtkliniken, nur dass viel mehr Druck ausgeübt werden muss.
„Freiwillig passiert hier gar nichts. Du hast es oft mit emotionalen Analphabeten zutun und eine Gruppendynamik, wie sie in deutschen Gruppentherapien angestrebt wird, ist in China zumeist nicht möglich. Als ich hier das erste Mal eine Gruppensitzung leitete und einen der aufsässigen Totalverweigerer hinausschmiss, baten mich sofort ein halbes Dutzend andere Patienten, ob ich sie nicht bitte auch rausschmeißen könne.“
„Eine ganz andere Welt als bei uns.“
Singer hat dazu gelernt und wird aufgrund seines profunden Fachwissens mittlerweile im ganzen Land herumgereicht. Er hält Vorträge, berät Kliniken und hat eine Professur an der Uni von Guangzhou, wo er angehende Psychiater in Grundlagen der Psychotherapie einführen soll.
„Es ist eine ganz andere Welt als bei uns. Die Studenten sind in der Regel zwar sehr belesen und haben ein unglaubliches Wissen, aber keine Ahnung, wie sie es anwenden sollen. Die chinesische Lieblingsdiagnose, wenn jemand nicht rundläuft, lautet: Bipolare Störung. Das ist eine heftige Diagnose. Ein wirklich schlimmes Krankheitsbild, das oft im Suizid endet. Die meisten Bipolaren, die sie mir zeigen, sind jedoch allerhöchstens depressiv verstimmt.“
Pionier-Arbeit müsse er deshalb leisten. Ihnen beibringen wie man Patienten behandle, ohne sie zu manipulieren. „Manipulation ist ein bewährtes Mittel in diesem Land. Genauso wie Kontrolle. Probleme beantwortet der Staat gerne mit Kontrolle. Und was sich im Makrokosmus findet, das findet sich natürlich auch im Mikrokosmus.“
„Sucht ist Sucht – egal ob Heroin oder Internet.“
Nach Ende des Opiumkrieges galt das Land lange Zeit als relativ drogenfrei. Mit gelockerter Grenzpolitik, ansteigendem Wohlstand und größerer individuellen Freiheit ging jedoch ein Anstieg der Drogenabhängigkeit einher. Genaue Zahlen zu bekommen ist schwierig, aber 2017 war mal von 2,5 Millionen registrierten Drogenabhängigen die Rede. Die Dunkelziffer dürfte daher, ähnlich wie im Westen, viermal so hoch sein. Aber selbst zehn Millionen Junkies sind keine dramatische Zahl, wenn man die Landesgröße bedenkt.
Dramatischer hingegen die geschätzten 30 Millionen Internetabhängigen, die in den Drogenstatistiken nicht vorkommen. Eine Milchmädchenrechnung, wie Mediziner Singer meint: „Sucht ist Sucht, spielt keine Rolle, wovon du abhängig bist. Der einzige Unterschied ist die körperliche Verwahrlosung, aber die soziale Verwahrlosung ist die gleiche. Und da an 30 Millionen Internet-Junkies auch 30 Millionen Familien dranhängen, kann man da schon von einem kleinen Flächenbrand sprechen.“
Auf Drogenhandel steht die Todesstrafe.
Der Internetabhängigkeit wird trotzdem weniger Aufmerksamkeit geschenkt, als den illegalen Drogen. Vor allem im Süden des Landes erfreuen sich synthetische Drogen zunehmender Beliebtheit. Etwa 60 Prozent der registrierten Drogenabhängigen konsumieren Meth und Amphetamin. Das ist leichter zu bekommen, beziehungsweise herzustellen. Wer damit Handel treibt, bekommt die volle Wucht des Gesetzes zu spüren.
Es gilt: keine Macht den Drogen!
Und damit die Botschaft klar und deutlich verständlich ist, wurden am 26. Juni 2018, dem Internationalen Tag gegen Drogenmissbrauch und -handel, auf der Südseeinsel Hainan, zwei Dealer öffentlich hingerichtet. Auf dem Sportplatz einer Schule – vor 300 Zeugen, darunter auch ein paar Schüler – hatte die Richterin die Verbrechen der beiden Männer verlesen. Sie hatten im großen Stil mit Crystal Meth gehandelt. Weiteren 17 Drogenhändlern wurde nach der Exekution auch der Prozess gemacht – acht von ihnen wurden ebenfalls zum Tode verurteilt.
Ja, sie verstehen keinen Spaß beim Thema Drogen. Zu präsent die Erinnerungen, was einst dabei herauskam, als die Briten während der Kolonialzeit das Volk mit Opium belieferte und sie süchtig und somit gefügig machten. Hongkong haben sie dadurch verloren. Der Stachel sitzt noch immer tief. Nie wieder soll irgendwer oder irgendwas das chinesische Volk unterjochen. Erst recht keine Drogen.